Slow Sex: Warum weniger Leistungsdruck im Bett guttut
Aktualisiert: 10. Juni 2022
Ein Erfahrungsbericht von Simone R.

Foto: Imago
Mein Mann und ich sind seit acht Jahren ein Liebespaar. Gemeinsam meistern wir unseren Alltag mit zwei Kindern, Haus und Hof. Wir lieben uns, aber viele Jahre lang lag unsere gemeinsame Sexualität in einem Dornröschenschlaf. Wenn wir es aus einem diffusen Pflichtgefühl heraus doch mal taten, war ich selten bei der Sache. Alles Mögliche schwirrte mir während des Schäferstündchens durch den Kopf – Gedanken, die mit Lust und Erotik nichts zu tun hatten.
An manchen Gesten, an seiner Mimik, seinen Andeutungen und Versuchen konnte ich im Lauf der Zeit erkennen, dass Markus sich sexuell mehr wünschte, als er von mir bekam. Ich wollte ihm wenigstens seine sexuellen Grundbedürfnisse erfüllen. Also kam ich ihm in dieser Hinsicht entgegen und gab ihm, wenn auch automatisiert, was er sich wünschte.
Zu Beginn unserer Beziehung hatten wir viel und leidenschaftlichen Sex. Irgendwann stagnierte er und ging auf ein Mindestmaß zurück – vor allem in der Qualität. Jegliche erotische Spannung zwischen uns ist mit der Zeit in einem Alltagssumpf versunken. Wir haben einander nicht mehr gezeigt, dass wir uns anziehend finden. Vermutlich haben wir einander nicht mehr wahrgenommen.
Was im Bett mit uns passierte, nahm ich persönlich. Wieso konnte er nach fünf Minuten sexueller Interaktion zufrieden einschlafen, während ich ein gewisses Vorspiel brauchte, um auf Betriebstemperatur zu kommen?
Für Markus endete Sex mit einem Orgasmus. Das frustrierte mich und zugleich setzte es mich unter Druck, weil mein Körper zu wenig Erregung zeigte. Ich fing an, mich zu fragen, was mit mir nicht stimmte.
Ich beklagte meinen Frust bei Freundinnen. Ich erzählte ihnen, dass der Sex mit Markus lahm sei und alles andere als befriedigend. Ich erzählte ihnen, dass ich niemals ohne mein Zutun kommen würde. Längst hatte ich im Sexuellen keinerlei Selbstwertgefühl mehr und meine Freundinnen konnten mir auch nicht helfen.
Jede Krise hat ihren Höhepunkt. Meiner war gekommen, als ich mich eines Tages zu einem Online-Sexworkshop anmeldete. Dort, unter meinesgleichen, erfuhr ich schließlich, dass Sexualität etwas Wandelbares ist, das wir ein Leben lang lernen müssen. Ich hörte, dass sich sexuelle Vorlieben und erogene Zonen mit der Zeit ändern können. Ich verstand, dass es für guten Sex nötig ist, Grenzen und Widerstände im eigenen Körper wahrzunehmen und diese der*dem Partner*in auch mitzuteilen.
Zu oft hatte ich Sex, obwohl mein Körper kein Ja signalisierte. Ich habe anschließend meinen Mann dafür verantwortlich gemacht, dass das Erlebte nicht schön genug war. Die Option »Nein, ich will nicht« schien es nicht zu geben, bis ich schließlich den Mut fand und zu Markus sagte: »Auf diese Weise kann ich nicht mehr mit dir schlafen.«
Slow Sex – die Entdeckung
»Die Reise beginnt bei dir selbst«, schreibt Tantra-Expertin Diana Richardson in ihrem Buch. Slow Sex ist eine entschleunigte Sexpraxis, die ihren Namen der US-amerikanischen Slow-Food-Bewegung verdankt. Richardson versucht in diesem Buch, Paaren einen neuen Zugang zu Sexualität zu vermitteln. Generell geht es darum, das Tempo zu reduzieren, absichtslos und ohne Performance-Druck aufeinander zuzugehen und nicht in erster Linie auf einen Orgasmus hinzuarbeiten.
Die meisten von uns haben stabile Muster im Kopf, wie Sex auszusehen hat. Als sei er etwas, das man auf einer Bühne aufführt, um anschließend gute Bewertungen zu bekommen. Der erste Schritt hin zu meiner Slow-Sex-Liebespraxis war deshalb, meine Sicht auf das Thema Sexualität zu ändern. Wichtiger als eine bestimmte Stellung sind für mich: Zeit und Sex ohne Druck. Ich hatte anfangs befürchtet, dass Markus nicht mitziehen würde. Doch als ich ihm meine neue Haltung zum Sex im Bett zeigte, nahm er sie auch mir gegenüber ein. Markus ging diesen Weg mit mir, obwohl er auch skeptisch war.
Slow Sex ist eine langsame Reise, die sich über Jahre und bis ins hohe Alter ausdehnen kann. Dabei ist der Weg das Ziel: Wir ackern nicht länger auf den einen kurzen orgiastischen Moment hin. Wir haben gelernt, die vielen Momente auf dem Weg zu genießen. Früher war das Vorspiel nur eine Durchgangsetappe. Heute kosten wir es aus und nehmen andere Körperregionen wahr, die wir nicht als erogen auf dem Schirm hatten. Wir lernen durch Wahrnehmung neue Nuancen körperlicher und emotionaler Empfindungen kennen. Der Leistungsdruck ist weg und wir haben auch Sex, wenn Markus keine Erektion hat.
Je häufiger wir übten, desto besser wurden wir und desto mehr Lust hatten wir, wieder zu üben. Heute schlafe ich nur mit Markus, wenn ich innerlich bei mir bleiben kann und gleichzeitig im Außen für seine Berührungen offen bin. Ich fokussiere oft meine Brustwarzen und spüre, wie sich mein Körper mit Liebe und Vitalität füllt. Zugegeben, es dauerte ein wenig, bis wir die Grundsätze dieser neuen Liebespraxis verinnerlicht hatten, denn alles, was wir zuvor über Sex wussten, wurde von heute auf morgen auf den Kopf gestellt.
Wiederentdeckung des Weiblichen
Was für einen gravierenden Unterschied Slow Sex zu dem vorher da Gewesenen macht! Ich hatte Sex, bei dem die Penetration schmerzte. Mit Slow Sex ist das anders. Meine Vagina reagiert sanfter und gelöster auf den Penis. Sie heißt ihn willkommen, weil aufgrund der Achtsamkeit keine »Gefahr« mehr von ihm ausgeht. Ich lernte, dass das Gewebe in meiner Vagina nicht dafür ausgelegt ist, Härte zu spüren. Ganz im Gegenteil. Aber es dauerte eine Weile, bis ich den sanften Druck des Penis in meiner Vagina wahrnehmen konnte. Außerdem musste ich lernen, den weniger klitorisbezogenen Sex zu akzeptieren. Über die Jahre hatte ich kaum Kontakt zu dem Inneren meiner Vagina. Einige Sexualforscher berichten immer wieder, dass der Vaginalkanal taub sei. Also spürte ich nicht weiter in mich hinein. Vielleicht überhörte ich auch die Signale meines Körpers aufgrund meiner jahrelangen sexuellen Konditionierung. Diana Richardson schreibt darüber auch in ihrem Buch: »Als einzelne Frau kennen wir unseren Körper eigentlich sehr genau. Als Gruppe aber, als weibliches Geschlecht, handeln wir, als würden wir kollektiv unter Hypnose stehen: Wir verstoßen wieder und wieder gegen die Wahrheit unseres Körpers.«
Ich durfte meine sexuelle, weibliche Essenz in den letzten Jahren erst kennenlernen.
Manchmal empfinde ich eine tiefe Traurigkeit, weil ich mir jahrelang nicht zugestanden habe, den Sex zu haben, den ich mir wünschte. Das Zulassen meiner Trauer und auch der Wut, die sich gegen meine Unfähigkeit, Grenzen zu ziehen, gerichtet hatte, bedeutet aber auch Transformation. Ich glaube heute, dass dieses Zulassen alter Schmerzen und Gefühle das ist, was mich und meine Partnerschaft geheilt hat.

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