Seit einiger Zeit kursiert der Begriff Sexpositiv in den sozialen Medien, wenn über Sexualität, Körperlichkeit oder Konsens gesprochen wird. Wir fragen uns, was steckt dahinter? Ein Interview mit Beatrix Roidinger, Autorin des ersten deutschsprachigen Ratgebers zum Thema Sexpositivität.
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Frau Roidinger, Sie und Ihre Kollegin Barbara Zuschnig haben ein Buch geschrieben: »Sexpositiv – Intimität und Beziehung neu verhandelt«. Können Sie uns den Begriff Sexpositiv bitte erklären?
Sexpositiv ist kein wissenschaftlicher Begriff mit einer klaren Definition. Sexpositiv ist eine Haltung einerseits und eine Bewegung andererseits. Drei Aspekte, die Sexpositiv kennzeichnen, kann man jedoch als kleinsten gemeinsamen Nenner nennen. Erstens: ein affirmativer, positiver Zugang zur Sexualität als Ausdruck und Quelle von Vitalität und einem gesunden und erfüllten Leben. Zweitens: das ungeteilte Recht jedes Menschen auf sexuelle Selbstbestimmung. Und drittens: Respekt gegenüber allen Menschen in ihrem sexuellen Sein. In vielen Kulturen sind Menschen bezüglich ihrer Sexualität verschämt. Nach wie vor ist Sexualpädagogik mehr oder weniger auf Verhütung von Schwangerschaft, Missbrauch und sexuell übertragbarer Krankheiten beschränkt. Wir lernen nirgends, wie ein glückliches sexuelles Erleben aussieht. Sexpositiv erweitert die Vorstellung von Sex radikal. Es geht um jede Form von Genuss, die Menschen Kraft, Stärke und Energie gibt. Jeder Mensch hat ein einzigartiges sexuelles Begehren und eine ganz persönliche Ausprägung seiner Sexualität. Diese Tatsache wird mit einer sexpositiven Haltung betont. Sexpositiv zu sein bedeutet, die Differenz und Diversität von Lebensstilen und sexuellen Neigungen und Vorlieben wertzuschätzen und sie als Ressource zu begreifen.
In Ihrem Buch haben Sie Kriterien für eine sexpositive Auseinandersetzung mit Sexualität definiert. Geben Sie uns einen kurzen Überblick?
Sexpositive Menschen übernehmen Verantwortung für ihre Gefühle und für ihr sexuelles Empfinden. Nicht jede*r muss alles ausprobieren, aber jede*r sollte tolerant gegenüber den unterschiedlichen sexuellen Spielarten sein. In sexpositiven Beziehungen reden die Partner*innen über ihre Sexualität – und das tun sie nicht nur in Krisenzeiten, sondern fortwährend. Sie etablieren eine Gesprächskultur, in der sie offen über sexuelle Wünsche und Fantasien sprechen. Zuzuhören und Toleranz gegenüber den individuellen Bedürfnissen zu zeigen bedeutet an dieser Stelle auch, ein Interesse für die sexuelle Eigenart des Partners oder der Partnerin zu entwickeln. Sexualität findet zum einen in einer Beziehung statt, egal wie diese definiert wird, und zum anderen auch in der Beziehung zu sich selbst. Außerdem wollen sexpositive Menschen dazulernen. Sie setzen sich bewusst mit ihrem Körper und ihrer Lust auseinander und investieren in ihre sexuelle Weiterbildung und Persönlichkeitsentwicklung. Wir suchen alle nach nährenden, erfüllenden und lustvollen Beziehungen. Ich glaube daran, dass sich diese Sehnsucht mit einer sexpositiven Haltung für jede*n erfüllen lässt.
Gab es einen Start-Zeitpunkt, sozusagen eine Geburtsstunde, der sexpositiven Bewegung?
In den 80er-Jahren verwendeten einige Vertreterinnen der feministischen Bewegung in Deutschland den Begriff Sexpositiv. Es war ihnen wichtig, aufzuzeigen, dass Frauen, die patriarchal geprägte Mainstream-Pornos ablehnten, nicht per se lust- und sexfeindlich sein mussten. In Amerika verwendeten in den späten 90er-Jahren zwei Zentren erstmals den Begriff: in San Francisco das Center for Sex and Culture (existiert nicht mehr) und in Seattle das Center for Sex Positive Culture.
Inwiefern haben BDSM oder Tantra zur sexpositiven Bewegung beigetragen?
Sowohl bei BDSM als auch bei Tantra steht der klassische Geschlechtsverkehr nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sex ist keine Einbahnstraße von A nach B. Tantra lehrt uns, in hohe Erregung zu kommen und propagiert die bewusste Auseinandersetzung mit dem Körper und dessen Erregungsfunktionen. Eine große Errungenschaft, vor allem dank der BDSM-Szene, ist die differenzierte Auseinandersetzung mit dem Herstellen von Konsens. Gerade in der Dynamik von submissiven und dominanten Rollen braucht es definierte Grenzen. Konsens ist das Aushandeln von beiderseitigem Einverständnis im Rahmen einer sexuellen Begegnung. Erst dieses Einverständnis schafft die Voraussetzung, dass sich alle Beteiligten sicher fühlen und ihre Bedürfnisse mit Vergnügen ausleben können. Das ist oft leichter gesagt als getan und erfordert Übung und Selbstreflexion.
Warum ist das Aushandeln von Konsens für viele immer noch irritierend und schwer vorstellbar?
Weil sich viele nicht vorstellen können, wie ein Date romantisch ablaufen kann, wenn man die andere Person um Erlaubnis für körperliche Berührungen bittet. Dabei gibt es natürlich auch nonverbale Gesten. Aber allein das Bewusstsein und das Nachfragen haben einen positiven, entschleunigenden Effekt. Alle Beteiligten können nachspüren, was gerade gewollt und gebraucht wird.
Und durch eine Entschleunigung kann ich das für mich herausfinden? Bleibt noch die Frage: Wie sage ich, dass ich etwas nicht möchte?
Wenn alles langsamer geht, kann ich besser nachspüren und herausfinden, was jetzt gerade für mich passt. Sexpositiv zu sein bedeutet einerseits, dass ich mich mit mir und meinen Bedürfnissen auseinandergesetzt habe und fähig bin, diese zu kommunizieren. Andererseits bedeutet es auch, dass ich mit einer Differenz zurechtkomme und mein Ego nicht beleidigt ist, wenn die Wünsche einmal auseinandergehen. Im Gegenteil: Es gibt mir Sicherheit, wenn mein Gegenüber auf sich schauen und sich mitteilen kann. Differenz ist spannend und bietet neue Chancen. Es geht immer auch um ein Stück persönlicher Weiterentwicklung, weil Sexualität ein wesentlicher Teil der Persönlichkeit ist.
Ein positives Körpergefühl ist eine wichtige Voraussetzung für Sexpositivität. Helfen oder schaden uns die sozialen Medien eigentlich dabei, ein gutes Körpergefühl zu entwickeln?
Soziale Medien sind Fluch und Segen. Einerseits werden stereotype Körperbilder propagiert, die viele Menschen in Stress bringen, die dem nicht entsprechen. Andererseits nutzen viele sexpositive Aktivist*innen diese Plattformen, um ihre Message zu verbreiten. Unter dem Begriff Body Positivity haben sich neue Szenen etabliert, die für ein positives Körpergefühl stehen, egal wie man aussieht. Gerade auf Instagram gibt es unzählige Kanäle mit Bildern, Texten und Ankündigungen von Events.
Körperlichkeit ist auch in der Mainstream-Pornografie ein großes Thema. Wie passen Sexpositivität und Pornos zusammen? Passen sie überhaupt zusammen?
Es gibt inzwischen eine Vielzahl von alternativen Pornoproduktionen und -plattformen. Oft führen Frauen Regie. Sie zeigen neben Menschen, die sich optisch fernab vom klassischen Pornoklischee befinden, auch alternative Handlungen und experimentieren mit unterschiedlichen Filmästhetiken. Außerdem werden Menschen gezeigt, deren Geschlechtsidentität nicht in die Polarität von Mann und Frau passt, und welche die heterosexuelle Matrix auflösen.
Welche Möglichkeiten habe ich heutzutage, mich mit dem Thema Sexpositivität auseinanderzusetzen?
Eine gute Gelegenheit dafür sind sexpositive Festivals und Workshops. In den letzten Jahren ist eine Vielzahl davon entstanden – mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten. Auf diesen Events kann man lustvoll ausprobieren, gleichgesinnte Menschen kennenlernen und fast immer geht das mit tiefgreifenden Erkenntnissen einher. Ein Festival dauert meistens drei bis acht Tage und beinhaltet unterschiedliche Formate: Mini-Workshops, Sharing Groups, Play Partys und Performances.
Ich danke Ihnen für das Interview!
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